Wie verhalten sich neue und historisch gewachsene Jugendstrukturen zueinander? Wie gehen etablierte Jugendverbände mit der pluralen, (post)migrantischen Gesellschaft um? Wie prioritär wird eine rassismuskritische Öffnung vorangetrieben? Und wie steht es grundsätzlich um die Jugendperspektive in Migrationsthemen?
Diesen und weiteren Fragen sind wir auf unserem jugendpolitischen Forum „Jugend > Migration > Zukunft“ am 6. Juli 2023 nachgegangen. Zusammen mit rund 70 Akteur_innen aus der Jugend(verbands)arbeit sowie postmigrantischen Strukturen, Politik und Forschung diskutierten wir dabei in Berlin über die aktuellen Herausforderungen und Chancen von jugendpolitischem Engagement im Kontext von Migration.
Diversity-Diskussionen sind das Biofleisch des Antirassismus
Erste Denkanstöße kamen in der inspirierenden Keynote von Filmemacherin und Journalistin Melina Borčak. Sie machte deutlich, dass die Migrationsgesellschaft – auch wenn es teilweise Verbindungen gibt – keineswegs ein homogener Einheitsbrei ist, dass Communities eigene Safer Spaces brauchen und es dafür dringend die nötige finanzielle Unterstützung geben müsse. Sie kritisierte in diesem Zusammenhang auch das deutsche Wahlrecht scharf, denn nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes dürfen in Deutschland insgesamt ca. 60,4 Millionen von knapp 83 Millionen Einwohner_innen wählen. Ausgeschlossen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die die Politik somit nicht aktiv mitgestalten dürfen. Doch wer trifft dann eigentlich die relevanten Entscheidungen? Mit einem markanten Zitat forderte Borčak am Ende eine tiefere Auseinandersetzung mit den strukturellen Ursachen von Rassismus und Diskriminierung: „Diversity-Diskussionen sind das Biofleisch des Antirassismus: Man macht es nur um das schlechte Gewissen zu bessern, aber eigentlich wissen alle, dass es keinen Unterschied macht.”
Tiefer eintauchen in die Thematik – die drei Panels
Vertiefende Diskussionen fanden im Anschluss an die Keynote in drei Panels statt: In „Nur für Erwachsene – Wo ist die Jugendperspektive in Migrationsthemen?“ sprachen der Vorstandssprecher der Iranischen Gemeinde Deutschland (IGD) Ehsan Djafari, Melina Borčak und Ajriz Bekirovski von Amaro Drom / Vorsitzender djo-Bundesverband darüber, dass junge Menschen und ihre Selbstorganisationen in migrationspolitischen Foren und Netzwerken kaum präsent sind. Sowohl seitens der Politik als auch der Zivilgesellschaft wird Migration als Erwachsenenthema verhandelt. Die drei Diskutant_innen stellten fest, dass sich die Bedürfnisse der jungen Generation innerhalb der migrantischen Community verändert haben. Wo in früheren Generationen die Alltagsbewältigung im Vordergrund stand, wird aktuell die politische Teilhabe immer wichtiger. Anknüpfend an die Keynote wurde betont, dass es mehr Förderung für (post)migrantische Strukturen braucht. Außerdem wurde mehr Anerkennung für die eigenständigen Organisationsformen verschiedener Communities gefordert.
Özge Erdoğan (Deutscher Bundesjugendring und Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland), Susanne Koch (Landesjugendring NRW und djoNRW) sowie Quyên Vo vom Projekt Jugendstil* setzten sich im zweiten Panel mit der Frage auseinander, wie prioritär das Thema rassismuskritische Öffnung in Jugendverbänden behandelt wird. Die Diskutantinnen waren sich einig, dass eine antirassistische Öffnung in etablierten Verbänden zum Teil zwar stattfindet, dass aber noch viel mehr getan werden muss. Es wurde konstatiert, dass die Gründung eigener Strukturen oft eine Antwort auf Angst vor oder Erfahrung von Diskriminierung in bereits bestehenden, alteingesessenen Strukturen ist. Und auch in diesem Panel wurden Förderstrukturen als zu unflexibel kritisiert. Die Bedarfe von kleinen Initiativen und Strukturen würden wenig berücksichtigt, es brauche mehr Mikroförderungen, hieß es in der Diskussion. Außerdem brauche es mehr Allianzen und Bündnisse sowie leichteren Zugang zu Wissen, wie beispielsweise effektive Lobbyarbeit funktioniert. So müsse man nicht immer wieder bei null anfangen.
Das dritte Panel „Generationswandel willkommen – Wie gehen (post)migrantische Organisationen mit jungem Engagement um?“ behandelte die Herausforderungen und Potenziale in der Zusammenarbeit zwischen (post)migrantischen Jugend- und Erwachsenenverbänden. Denn: Zahlreichen (post)migrantischen Organisationen fehlt der Nachwuchs. Das haben Vecihe Baris Uyar (ichbinsichtbar) und Anne-Marie Brack (ehemals IGD) in ihrem Forschungsprojekt „Zwischen Gründungsboom und Nachwuchssorgen: Perspektiven und Potentiale einer gelingenden Kooperation zwischen Migrant_innenselbstorganisationen und ihren Jugendinitiativen“ aufgezeigt. Die Ergebnisse stellten die beiden erneut vor und sprachen gemeinsam mit Ronas Karakaş (KOMCIWAN und djoNRW) sowie den Teilnehmenden darüber, wie Kooperationen von Jugend- und Erwachsenenverbänden zur nachhaltigen Stärkung des Engagements gelingen können.
Ein Fazit war, dass eine eigene Rechtsform für Jugendverbände sehr von Vorteil sein kann – hier können junge Menschen eigene Erfahrungen sammeln, Verantwortung übernehmen undeigene Entscheidungen treffen. All das bringt sie auf Augenhöhe mit „ihrem Erwachsenenverband“ und lässt beide Parteien sich neu begegnen. Im besten Fall können sich so Jugend- und Erwachsenenverband gegenseitig inspirieren und voneinander lernen. Ein weiteres Fazit war, dass sowohl postmigrantische Jugend- als auch Erwachsenenverbände eine stabile und langfristige Förderung benötigen. Wenn es sich nur um eine sogenannte „Anschubfinanzierung“ handelt, bricht das gerade aufgebaute, noch sehr vulnerable „Kartenhaus“, so die eindrückliche Formulierung von Ronas Karakaş, wieder in sich zusammen und ggfs. jahrelange ehren- und hauptamtliche Arbeit wurde umsonst aufgewendet.
Fish-Bowl-Diskussion
Nach einer kurzen Pause mit leckerem Kuchen und Cookies ging es zurück in den großen Saal. In einer abschließenden Fish-Bowl-Diskussion wurden die Perspektiven der drei Panels zusammengeführt. Die Wichtigkeit einer stabilen Finanzierung stand auch hier im Fokus. Hintergrund war, dass am Tag vor der Veranstaltung die Bundesregierung den Kabinettsentwurf zum Bundeshaushalt 2024 beschlossen hat. Dieser sieht eine Kürzung in Höhe von 44,6 Millionen Euro bzw. 18,6 Prozent für den Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP) im Vergleich zum Vorjahr vor – eine Entwicklung, die mit großer Sorge betrachtet wurde. Hervorgehoben wurde außerdem erneut, wie wichtig es ist, über Verbände politische Interessensvertretung zu betreiben. Wenn dies oftmals auch nur kleine Schritte sind, sie haben eine Wirkung.
Die Fish-Bowl wurde von dem Graphic Recorder Sven Kröger begleitet (siehe oben). Mit einer Mentimeter-Umfrage beendeten wir den Nachmittag und auch diesen Bericht wollen wir mit einigen Wünschen und Forderungen aus der Umfrage schließen:
Was kannst du selbst für wirksame Teilhabe tun?
- „In jugendpolitischen Gremien für strukturelle Veränderungen sorgen“
- „Privilegien abgeben“
- „Intersektional und machtkritisch reflektieren“
- „Vernetzen“
- „Professionalisierung, Powersharing, Networking und Lobbyarbeit“
Was sollten “andere” (und wer sind die Anderen) für wirksame Teilhabe tun?
- „Zuhören“
- „Verbände: Wissenstransfer als Priorität setzen und ermöglichen“
- „Jugendringe: Strukturen ernsthaft für alle öffnen“
- „Strukturelle Hürden abbauen! Macht abgeben! Hierarchien dekonstruieren!“
- „Politik: Politischer Wille + Geld (Money talks)“
- „Förderrichtlinien ändern und Gremien und Entscheidungsträger diverser besetzen“
- „Die anderen sind vor allem weiße, etablierte Strukturen. Und darin brauchen wir einzelne Individuen, die ihre Macht nutzen, um sie zu teilen“
Catherine Knauf
Sarah Hanke
Theres du Vinage