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13. Februar 2023
Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit in einer gespaltenen Migrationsgesellschaft – Ein Artikel von Karima Benbrahim

Für die Ausgabe unserer Verbandszeitschrift der PFEIL von Dezember 2022 mit dem Thema „Diversitätssensible Jugendverbandsarbeit“ haben wir einen spannenden Artikel von Karima Benbrahim, der Leiterin von IDA NRW, abgedruckt, mit dem Titel „Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit in einer gespaltenen Migrationsgesellschaft“.

Wir erleben derzeit extreme Polarisierungen rassistischer und rechter Stimmungsmache. Die Debatten kreisen um das Thema Migration, Flucht und Islam und die damit einhergehende Frage bzw. Herausforderung ist, wie mit gesellschaftlicher Heterogenität angemessen umzugehen sei.
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Konfliktlinie nicht immer an der Kategorie Migration, sondern zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen von Pluralität verläuft, wie es die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan treffend beschreibt:
„Migration ist nur die Chiffre, hinter der sich vielfältige Konflikte im Umgang mit Pluralität verstecken: Umgang mit Gender-Fragen, Religion, sexueller Selbstbestimmung, Rassismus, Schicht und Klasse, zunehmende Ambiguität und Übersichtlichkeit usw.“ (Naika Foroutan, 2019)

Das Problem dieses „Migrationsschleiers“, der diese Komplexität verdeckt, liegt darin, dass in den letzten Jahren die o. g. Themen mit Migration verknüpft wurden und nicht als Themenfelder wahrgenommen wurden, die auch ohne Migrationsbezug von höchster Relevanz sind. So stürzen sich Rechtspopulist*innen auch hier auf die Chiffre „Migration“ und schotten sich gegen jegliche Form von einem pluralen Verständnis einer postmigrantischen Gesellschaft ab. Rassistische und rechte Einstellungen, Ablehnung und offene Feindseligkeit bzw. Enthemmungen gegenüber Black, Indigenous und People of Color (BIPoCs) als sog. Migrationsandere sind nicht nur weit verbreitet, sondern sie haben in den letzten Jahren zugenommen. Laut den Opferberatungsstellen ist Rassismus das häuf igste Tatmotiv.

Hassbotschaften in den sozialen Netzwerken und verbale sowie tätliche Angriffe besonders auf sog. Migrationsandere, geflüchtete, jüdische und muslimische (oder als solche markierte) Menschen haben in einem Ausmaß zugenommen, dass sie als Teil unserer gesellschaftlichen Realität nicht mehr ignoriert werden können. Allerspätestens diese Entwicklungen haben deutlich gemacht, dass Rassismus weder ein Phänomen der Vergangenheit ist, noch sich auf den rechten ‚Rand‘ der Gesellschaft beschränkt, sondern fest in der Mitte verankert ist. Das postnationalistische Rassismusverständnis stellt für rassismuskritische Ansätze immer noch eine große Herausforderung dar, denn es verknüpft Rassismus mit dem Nationalsozialismus und beruft sich auf lediglich individuelle Einstellungen bzw. Verhaltensmuster von Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft. Bei einer Analyse dessen sind besonders die historischen, sozial-strukturellen und gesetzlichen Kontexte zu durchleuchten. Begriffe wie „Rasse“, die ihre Hochkonjunktur im Nationalsozialismus hatten, werden heute zwar vermieden, sie werden jedoch durch andere Begriffe wie „Kultur“ oder „Identität“ oder „Ethnie“ ersetzt. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“ (Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr 1955, S. 277)

(…) Laut der Politikwissenschaftlerin Dr. Liya Yu führen Krisenzeiten wie die Corona-Pandemie dazu, dass marginalisierte Gruppen noch stärker ausgegrenzt und entmenschlicht werden. Man könne in der Gesellschaft oft zwei Reaktionen beobachten: „Entweder verhalten sich Menschen so, als gäbe es die Pandemie nicht, oder sie suchen eine Personifizierung der Gefahr, die vom Virus ausgeht“. Die rassistische Logik dahinter ermögliche es, dass Asiat*innen für die Krise verantwortlich gemacht würden — es trifft aber auch andere marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, Rom*nja oder Schwarze Menschen / Menschen of Color, wie vielerorts schon geschehen. Die Vermischung von diffuser Angst mit rassistischen Stereotypen lässt sich auch in den Medien beobachten. Dies sind nur einige Aspekte — die zeigen, dass die Folgen der Corona-Krise uns noch lange in der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigen werden.

Seit der Aufdeckung der NSU Morde gewinnt institutioneller und struktureller Rassismus im gesellschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland an Bedeutung. Im Mittelpunkt der Diskussion steht häufig das behördliche Versagen von Polizei und Verfassungsschutzämtern bei der Verhinderung von rechter und rassistischer Gewalt und Terror. Doch auch in der Bildungsarbeit muss sich der Blick auf die Strukturen und Rahmenbedingungen in den eigenen Institutionen und Organisationen richten, in denen immer noch eine nahezu prämigrantische Realität herrscht, die von Weißen, christlichen und heterosexuellen Männern geprägt ist, wie es Birgit Rommelspacher in ihrem Werk Dominanzkultur beschreibt.

Durch die immer stärker in allen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar gewordene Realität einer Migrationsgesellschaft und der Zuwanderung geflüchteter Menschen insbesondere in den Jahren 2014/2015 ist in vielen Kommunen, Verbänden und Organisationen ein neuer Bedarf sichtbar geworden, sich mit Rassismuskritik und Migrationspädagogik nicht nur auf individueller, sondern auch auf institutioneller Ebene auseinanderzusetzen und die eigenen Angebote auf eine rassismuskritischen bzw. migrationsgesellschaftliche Öffnung der eigenen Institutionen hin zu überprüfen. Insbesondere rassismuskritische Öffnungsprozesse werden angefragt, die nicht nur individuelle, sondern institutionelle und strukturelle Praktiken von Rassismus reflektieren, d. h. über das Bildungsangebot für eine Sensibilisierung für Rassismus hinausgehend ausgerichtet sind, da es kaum rassismuskritische Angebote auf organisationaler Ebene gibt und dieser Bedarf in vielen Fällen nicht bedient werden kann.

Rassismuskritik ist herausfordernd und anspruchsvoll zugleich, da man in einem ständigen Prozess ist, die eigene Haltung aufs Neue zu reflektieren. Annita Kalpaka und Nora Räthzel (2017) haben dieses Dilemma als „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ beschrieben. Das Sich-Einlassen auf den Prozess einer kritischen Selbstreflexion bedeutet, sich aus dem Gewohnten herauszubewegen, sich von dem eigenen hegemonialen Selbstbild, den Weltbildern und unhinterfragten Selbstverständlichkeiten in eine Distanz zu begeben, um eigene Routinen im Denken und Handeln zu hinterfragen. Diese Privilegienreflexion setzt jedoch voraus, dass weiße Menschen, die von Rassismus profitieren, erkennen, dass sie per se Privilegien besitzen, die Menschen mit Rassismuserfahrungen nicht besitzen. Diese Erkenntnis führt zu Irritationen und Unsicherheiten, die schwer auszuhalten, aber notwendig sind für einen rassismuskritischen Lernprozess. Auch wenn wir bisweilen trotz erhöhter Aufmerksamkeit und Sensibilität problematisch handeln, indem wir in schwer durchschaubaren Situationen, bspw. in einem pädagogischen Setting oder Beratungskontext auf Stereotype zurückgreifen, um die Perspektive der ratsuchenden Person zu erklären, ist es wichtig, die Konstellation erneut zu überdenken. Dies bietet die Möglichkeit, das Gesagte zu überdenken, es reflexiv einzuholen und noch einmal das Gespräch mit Teilnehmer*innen, Beratungsnehmer*innen, Gesprächspartner* innen, Adressat*innen zu suchen oder den Vorgang mit Kolleg*innen zu besprechen — bestenfalls in Form einer kollegialen Fallberatung oder Supervision mit rassismuskritischer Perspektive.

Für die Kinder- und Jugendarbeit, die der Migrationsgesellschaft gerecht werden will, besteht die Aufgabe darin, Rassismuskritik zu institutionalisieren und Powersharing auf allen Ebenen zu praktizieren. Dabei geht es darum, bspw. die Personalauswahl, die Arbeitsbereiche, die Zielgruppen und Angebote rassismuskritisch und migrationspädagogisch zu überprüfen und zu gestalten.

Ich glaube, es ist enorm wichtig zu verstehen, dass gerade für weiß dominierte Institutionen die Thematisierung und Selbstreflexion von Rassismus und Powersharing ein zentraler Bestandteil für eine rassismuskritische Öffnung ist, da es darum geht, Machtungleichheiten in Form der Umverteilung von Ressourcen und Zugängen auszugleichen. Empowerment sollte somit als eine Konsequenz aus einer rassismuskritischen Handlung gegenüber Menschen mit Rassismuserfahrung verstanden werden, da Rassismus den Lebens- und Arbeitsalltag strukturiert und durch empowermentorientierte Angebote und Räume thematisiert und überwunden werden kann. Empowerment schafft für Menschen mit Rassismuserfahrungen Orte des Krafttankens und des Widerstandes, welche besonders in weiß-dominierten Strukturen notwendig und unabdingbar sind, um Rassismus benennen, verstehen und überwinden zu können.

Karima Benbrahim, Leiterin von IDA-NRW — Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW www.ida-nrw.de Aus: PJW-info 03.2020 (Mitglieder-Zeitschrift des Paritätischen Jugendwerks NRW), gekürzte Fassung

Zur gesamten PFEIL-Ausgabe gelangt ihr hier!

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