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24. Januar 2023
Diversitätssensible Jugend(verbands)arbeit – Von der Interkulturellen Öffnung zum diskriminierungskritischen Diversity-Ansatz

Ein Artikel unserer Projektreferentin Sarah Gräf von Wissen.Macht.Divers aus der PFEIL-Ausgabe von Dezember 2022. 

„Diversität wird bei uns großgeschrieben! Wir sind bunt, vielfältig und jeder Mensch ist bei uns willkommen!“ So oder so ähnlich liest man es oft auf Webseiten von Jugendgruppen und -verbänden, in Mission Statements oder Positionspapieren. Aber was genau bedeutet das eigentlich? Verstehen wir unter Diversität und Vielfalt alle dasselbe?
Zunächst ist ein solches Bekenntnis ja etwas Positives. Es bietet eine starke Ausgangsbasis, auf der wir uns als ehrenamtlich Aktive, hauptamtlich Angestellte und Vorstandsmitglieder die Begriffe Diversität oder Vielfalt genauer ansehen können. Die Krux liegt jedoch auch hier im gar nicht so versteckten Detail. Oft alternativ verwendete Begriffe wie Toleranz und Offenheit suggerieren beispielsweise, dass wir (im Verband oder in der Gruppe) ja eigentlich doch recht homogen sind, zumindest aber über eine gemeinsame Norm- und Wertebasis verfügen. Toleranz können wir dann den „Anderen“ schenken, während Offenheit bedeutet, dass wir ihnen Zugang gewähren. Offenheit und Toleranz sind in der Regel an Bedingungen geknüpft, die mal mehr oder weniger deutlich kommuniziert werden. Die Gruppenbildung zwischen dem Eigenen und dem Fremden („Othering“) und einem oftmals damit verbundenen Deutungsanspruch bleibt dabei allerdings die Grundlage. Dieses Machtungleichgewicht wird besonders bei vulnerablen Zielgruppen deutlich, beispielsweise in der Projektarbeit mit jungen Geflüchteten.
Was oft als Prozess einer „Interkulturellen Öffnung“ begonnen hat, wird heute deshalb in vielen Jugendverbänden unter dem neuen Schirm „Diversitätssensible Jugend(verbands)arbeit“ weiterdiskutiert und fortentwickelt. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass es eben nicht nur um „Kultur“ geht — ein sowieso sehr schwammiger und mehrdeutiger Begriff, der in diesem Kontext häufig die Herkunft von Eltern, Großeltern, Urgroßeltern etc. beschreiben soll. Identitäten sind komplex und unsere Lebensrealitäten sind es auch. In den meisten Diversitätskonzepten wird versucht, diese Komplexität schematisch darzustellen: Alter, Geschlecht/Gender, sexuelles Begehren, Aussehen, Sprache, gesellschaftliche Behinderung etc. gelten hier als Diversitäts- oder Vielfaltsdimensionen. Diese Kategorien dienen nicht etwa dazu, neue Schubladen aufzumachen, sondern dem Verständnis, dass wir unsere Gesellschaft — also Kultur (im weiteren Sinne), Gesetzgebung, Institutionen, Traditionen, Werte etc. — nach Normvorstellungen ausgerichtet haben. Diese Vorstellungen sind historisch sehr tief verwurzelt, uns oftmals gar nicht bewusst und haben mit unseren heutigen Lebensrealitäten häufig wenig zu tun. Dennoch haben sie Einfluss darauf, ob Menschen an gesellschaftlichen Ressourcen teilhaben können (Zugang zu Bildung, Kultur, Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt etc.) oder Ausgrenzung erfahren. Diese Ungleichverteilung von Ressourcen wurde gesellschaftlich lange nicht thematisiert.
Spätestens hier wird es in Diskussionen oft auch ungemütlich. „Wenn alle am Tisch sitzen und ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, dann bedeutet das zumindest Debatte, wenn nicht sogar Streit. Diversität ist keineswegs bequem, denn Teilhabe bedeutet, dass geteilt werden muss“, sagt der Migrationswissenschaftler Aladin El-Mafaalani.
Wenn wir also darüber nachdenken wollen, wie wir unseren Verband diversitätssensibel aufstellen können, geht es um mehr als bunte Luftballons, Handabdrücke oder Regenbogenflaggen. Wir reden über Zugänge und Zugangshürden, darüber, wer bei uns (für wen) Entscheidungen trifft, für wen — bei aller verkündeten Offenheit und Toleranz — unsere Angebote eigentlich wirklich konzipiert sind. Diese Fragen lassen sich sicherlich nicht in einem verlängerten Teammeeting klären.
Eine gute Voraussetzung ist dann gegeben, wenn der Weg hin zum diversitätssensiblen Jugendverband als unabgeschlossener, kontinuierlicher Lernprozess verstanden wird — mit der Offenheit, nicht auf alle Fragen sofort eine Antwort haben zu müssen und einen eingeschlagenen Kurs auch wieder korrigieren zu dürfen.

Bausteine für eine diversitätssensible Jugendarbeit

Wer kann bei uns mitmachen, fühlt sich wohl und sicher? Wen sprechen wir mit unseren Angeboten und Social-Media-Posts an? Und wie gehen wir mit einem Diskriminierungsvorfall bei einer Veranstaltung um? Diversitätssensible und diskriminierungskritische Jugendverbandsarbeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir können uns nicht mit Diversität im Verband auseinandersetzen ohne über Zugangshürden und Ungleichverteilung zu sprechen. Um einen Einstieg in diese Auseinandersetzung zu finden, können folgende Bausteine hilfreich sein, die verschiedene Ansatzpunkte und Reflexionsfragen aufgreifen. Ziel dabei ist nicht, die Bausteine und Fragen im Sinne einer Checkliste so schnell wie möglich abzuarbeiten oder sofort eine Antwort parat zu haben. Wenn wir Heterogenität und Vielfalt als Normalfall statt einer Ausnahme betrachten, geht es zunächst darum, eigene Gewissheiten und Normen aufzudecken und zu hinterfragen. Nur so können wir dann letztlich Strukturen ermöglichen, in denen sich alle einbringen können. Die Bausteine können in diesem Prozess eine erste Hilfe bieten, um miteinander ins Gespräch zu kommen und Handlungsoptionen zu entwickeln. Wichtig ist dabei: Auch kleine Schritte entfalten Wirkung!

Haltung

• Haben wir als Team, in der Gruppe oder im Verband eine gemeinsame Haltung zu Diversität, die wir offen kommunizieren? Wird sie von allen geteilt?
• Wird unser Mission Statement oder unser Leitbild regelmäßig überprüft und besprochen?
• Welche unausgesprochenen Normen und Werte gibt es bei uns? Sind diese von allen hinterfragbar und verhandelbar?
• Hängt die Thematisierung von Diversität und Diskriminierung an engagierten Einzelpersonen oder ist sie fester Bestandteil unserer Organisationskultur?

Fehler- und Lernkultur

• Berichten wir auch über Misserfolge?
• Dürfen Fehler gemacht werden? Sprechen wir uns gegenseitig auf Fehler an?
• Sind wir im Austausch darüber, wie wir Feedback äußern wollen und in welcher Form wir es annehmen können?
• Wie wird neues Wissen ins Team oder den Verband getragen?

(An)Sprache

• Wie benennen wir unsere Zielgruppe? Nutzen wir Selbstbezeichnungen?
• Stellen wir unsere Zielgruppe in der Öffentlichkeit, in Förderanträgen, Planungsprozessen o.ä. als homogene Gruppe dar?
• Setzen wir in unseren Projektbeschreibungen und Berichten Differenz und Defizite in den Fokus?
• Wer zeigt wen in unseren Flyern und Produkten? Wer bekommt von wem in Lehr- und Lernsituationen etwas beigebracht?
• Reproduzieren wir stereotype Rollenbilder (bspw. in Bezug auf Gender und Sexualität)?

Perspektivenvielfalt

• Wie sind unsere (Stellen-)Ausschreibungen und Auswahlprozesse gestaltet? Was wird vorausgesetzt? Wem wird Kompetenz zugesprochen?
• Lässt sich die Mitarbeit auf allen Ebenen so gestalten, dass unterschiedliche Lebensrealitäten berücksichtigt werden?
• Wird Vielfalt bei uns wahrgenommen und anerkannt (ohne sie zu werten, zu kategorisieren oder festzuschreiben)?
• Geben wir marginalisierten Perspektiven aktiv Raum, wenn sie uns selbst in der Gruppe oder im Team fehlen?

Empowerment und Safer Spaces

• Gibt es Möglichkeiten für Betroffene von Diskriminierung sich innerhalb von Teams, Gruppen oder Verband selbstbestimmt zu organisieren und Räume selbst zu gestalten?
• Stehen finanzielle Mittel zur Verfügung und wer kann darüber entscheiden?
• Setzen wir uns bei Unterstützungsangeboten kritisch mit dem Konzept des „Helfens“ auseinander?

Transparenz

• Kommunizieren wir unsere Werte, Ziele und Motivationen nach innen und außen?
• Kommunizieren wir Barrieren auf unseren Veranstaltungen?
• Gibt es ein offen kommuniziertes Vorgehen bei Diskriminierungsvorfällen?
• Haben wir ein Leitbild, auf das sich Menschen berufen können?
• Sind vorhandene Privilegien und Ressourcen für alle transparent?

Partizipation

• Wird die Zielgruppe bei der Konzeption von Angeboten beteiligt? Zu welchem Zeitpunkt?
• Gibt es Auswahlprozesse zur Partizipation? Wenn ja, wie sind die gestaltet?
• Wer kann unsere Infrastruktur nutzen und hat Zugang zu finanziellen Mitteln?

Institutionalisierung

• Gibt es Informationen und feste Kriterien zur diversitätssensiblen Seminar- und Veranstaltungsplanung?
• Gibt es Informationen und feste Regelungen zur diversitätssensiblen Sprache und Öffentlichkeitsarbeit?
• Gibt es Angebote und Schulungen (für alle) zur Auseinandersetzung mit Diskriminierung?

Zur gesamten PFEIL-Ausgabe gelangt ihr hier!

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