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14. September 2022
Interview mit Elżbieta Kosek – „Inklusion sollte als Prozess verstanden werden“

Für die Juni Ausgabe unserer Verbandszeitschrift der PFEIL mit dem Thema „Inklusion in der Jugend(verbands)arbeit“ haben wir ein Interview mit Elżbieta Kosek geführt, sie ist Bildungsreferentin für Inklusion bei der Kreisau-Initiative e. V.

 

Auf ihrer Webseite schreiben Sie, dass sich der internationale Jugendaustausch fast ausschließlich auf Nichtbehinderte beschränkt und sie diese Lücke schließen wollen. Was setzen Sie konkret um?

Zum Glück verändert sich das langsam. Förderprogramme nehmen Inklusion immer stärker in den Blick und es gibt gute Fortbildungsangebote und Materialien zu inklusiver Jugendarbeit, wodurch mehr und mehr Fachkräfte qualifiziert werden. In der Kreisau-Initiative ist Inklusion einer der drei definierten Arbeitsschwerpunkte. In den vielen Jahren inklusiver Bildungsarbeit ist es uns gelungen, ein zuverlässiges und weitreichendes europäisches Partnernetzwerk aufzubauen, mit dem wir kontinuierlich an der Umsetzung inklusiver und diversitätssensibler Bildungsangebote arbeiten. Dabei ist die Vielfalt der verschiedenen Partnerorganisationen wichtig, da diese wiederum sehr unterschiedliche junge Menschen erreichen und engagieren können. Im Zentrum stehen internationale inklusive Jugendbegegnungen. Als Netzwerk ist es uns ein wichtiges Anliegen, hier kontinuierlich Zugangsbarrieren abzubauen und so immer wieder neue Zielgruppen und Menschen mit unseren Projekten zu erreichen. 26 Dieses Bemühen unterstützen wir durch regelmäßige Fort- und Weiterbildungsprogramme wie dem Training „Kreisauer Modell“, das sich an europäische Fachkräfte richtet. Wir bilden auch Trainer*innen der inklusiven Bildungsarbeit aus, die Aktivitäten in unseren Netzwerken leiten, aber auch darüber hinaus aktiv sind und Wissen zu inklusiver, diversitätssensibler Bildungsarbeit verbreiten. Die Erfahrungen des Netzwerks teilen wir auch durch die Bereitstellung methodischer Publikationen und im Rahmen weiterer Kooperationen, wie z. B. dem Projekt VISION:INCLUSION, deren Ergebnisse ich an dieser Stelle sehr empfehlen möchte.

Wie viele personelle und finanzielle Ressourcen beansprucht das Umsetzen von Inklusion?

Das lässt sich aus meiner Sicht nicht pauschal beantworten. Am Ende hängt das von den individuellen Bedürfnissen der Personen ab, die an der Aktivität beteiligt sind. Verschiedene Menschen bedürfen verschiedener Unterstützungssysteme und Ressourcen. Die konsequente Visualisierung geschriebener Inhalte oder die Verwendung einfacherer Sprache ist mit einer guten Vorbereitung ohne viel Aufwand umsetzbar. Wenn aber Gebärdendolmetschende gebraucht werden oder barrierefreie Transportmittel, dann beansprucht das deutlich mehr Ressourcen. Viele Förderprogramme stellen hier aber mittlerweile zusätzliche finanzielle Ressourcen zur Verfügung.

Wie kann man auch mit wenig Kapazitäten das Thema Inklusion stärker in den Fokus nehmen?

Inklusion sollte als Prozess verstanden werden. Man muss nicht sofort für alles Lösungen und Konzepte haben. Es geht eher darum, sich für Inklusion in der eigenen Arbeit zu entscheiden und dann Schritt für Schritt bewusste Anpassungen vorzunehmen, optimaler Weise gemeinsam mit den Menschen, die man beteiligen möchte. Sie wissen am besten was sie brauchen, und oft können so ohne viel Aufwand verbesserte Zugangs- und Teilhabevoraussetzungen entstehen. Das braucht Flexibilität und die Bereitschaft umzudenken. Bereits kleine Veränderungen, wie z. B. mehr Pausen, Methodenvielfalt oder die Verwendung von einfacherer Sprache in Projektmaterialien können enorme Wirkung entfalten.

Wo sehen sie aktuell Stolpersteine und auch Hindernisse, sich dem Thema Inklusion stärker zuzuwenden?

Unsere Gesellschaft ist nicht inklusiv. Hindernisse und Stolpersteine gibt es daher überall. Der Aufzug darf im Brandfall nicht benutzt werden! Ok, welche Fluchtwege stehen dann für Menschen im Rollstuhl bereit? Vor dem Seminarraum ist eine vielbefahrene Straße? Was macht das mit der Akustik im Seminarraum? Können die Teilnehmenden dann noch alle Informationen verstehen und sich konzentrieren? Viele Hindernisse und Stolpersteine können mit einer guten Planung identifi ziert und reduziert werden. Manchmal braucht es einen alternativen Veranstaltungsort, manchmal können gemeinsam kreative Lösungen gefunden werden, denn nicht jede Barriere ist unüberwindbar. Die größeren Stolpersteine begegnen mir am häufi gsten in persönlichen und gesellschaftlichen Haltungen und Einstellungen. „Er schafft das nicht!“… „Sie kann das nicht!“ Diese Haltung fi ndet sich in den verschiedenen Perspektiven. Eltern sind überfürsorglich und halten die Kinder zurück. Gemeinschaften und Familien denken über die jungen Menschen nicht als aktive Bürger*innen und wirken demotivierend auf sie ein. Und die jungen Menschen selbst sind immer wieder mit ausgrenzenden Haltungen und Diskriminierung konfrontiert. Wenn ihnen ein solches Selbstbild gespiegelt wird, braucht es extrem viel Kraft, dennoch den Mut zu haben, neue Dinge auszuprobieren und sich auf unbekanntes Terrain zu wagen. Hier zu unterstützen und zu ermutigen, ist eine wichtige Aufgabe der inklusiven Jugendarbeit. Aber auch in der Jugendarbeit sind viele Ängste, Unsicherheiten und Fehleinschätzungen über Fähigkeiten und Potentiale junger Menschen mit Behinderungen. Aber was Menschen in der Lage sind zu tun, wie und ob sie sich beteiligen können, hängt davon ab, wie wir als Fachkräfte die Rahmenbedingungen gestalten. Anstatt sich von Hindernissen aufhalten zu lassen, fi nde ich es wichtiger, Fachkräfte zu ermutigen, Inklusion einfach mal auszuprobieren. Wenn wir ein wertschätzendes Umfeld etablieren, können Fehler wertvolle Lernmomente sein und Hindernisse können gemeinsam überwunden werden.

Vielfalt und Inklusion gehören zu den Prioritäten der neuen EU-Jugendprogramme: Wie verstehen Sie die beiden Begriffe?

Ich würde sagen, Vielfalt beschreibt unsere gesellschaftliche Norm. Sie berücksichtigt die Komplexität von Menschen und nimmt ihre unterschiedlichen Lebenslagen und Ausgangsvoraussetzungen wertschätzen wahr. Das zu fördern ist eine wichtige Aufgabe inklusiver und diversitätssensibler Bildung. Inklusion ist zu allererst ein Menschenrecht. Aber ich verstehe sie auch als gesellschaftlichen und pädagogischen Handlungsauftrag, der die gerechte Teilhabe aller Menschen zum Ziel hat. Um das zu erreichen, müssen Zugangs- und Teilhabebarrieren sowie Diskriminierungsstrukturen erkannt und kontinuierlich abgebaut werden und Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass alle Menschen sich in ihrer Vielfalt gerecht beteiligen und einbringen können. Dabei fi nde ich es immer noch mal wichtig, zwischen sozialer Inklusion und der Inklusion von Menschen mit Behinderung (disability inclusion) zu differenzieren. Soziale Inklusion nimmt alle in den Blick, was manchmal dazu führen kann, dass diejenigen, die verstärkt Unterstützungsbedarf haben, aus dem Blickfeld geraten. Disability Inclusion ist ein signifi kanter Teil sozialer Inklusion, die aber gezielt den Blick auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen lenkt.

 

Ovidiu Oniciuc I Building Bridges Greece 2019 © Kreisau-Initiative e. V

Zur gesamten PFEIL-Ausgabe gelangt ihr hier!

 

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