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03. August 2022
Interview mit Natalia Dengler – Arbeit an der Schnittstelle Behinderung, Flucht und Migration

Für die Juni Ausgabe unserer Verbandszeitschrift der PFEIL mit dem Thema „Inklusion in der Jugend(verbands)arbeit“ haben wir ein Interview mit Natalia Dengler geführt. Sie ist Geschäftsführerin von Die Sputniks e.V., der Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in Deutschland.

 

Können Sie Ihren Verein kurz vorstellen?

Wir sind die größte migrantische Betroffenenorganisation in Deutschland. Unsere Vereinigung umfasst rund 3.400 russisch- und ukrainischsprachige Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen. Wir sind eine multikulturelle Gemeinschaft von 29 Nationalitäten, Völkern und Ethnien, ein Drittel unserer Familien stammt aus der Ukraine. Unser Ursprung liegt in der Berliner Selbsthilfe. Für russisch- und ukrainischsprachige Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit Beeinträchtigungen sind wir bundesweit alternativlos.

Wie hat sich die Arbeit seit dem Krieg in der Ukraine verändert?

Infolge unseres Bekanntheitsgrades, unserer Verkehrssprache Russisch und unserer Kompetenz an der Schnittstelle Behinderung, Flucht und Migration sind unsere 42 bundesweiten Sputnik-Gruppen und unsere vier Organisationsfilialen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und NRW zu gefragten Anlaufstellen für geflüchtete Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus der Ukraine geworden. Unsere Peers lotsen fliehende Familien virtuell mit Hilfe von Ortskräften aus ihrer umkämpften Stadt, über die Grenzen bis zu ihren vorläufigen Aufenthaltsorten in Deutschland. Wir leisten erste bürokratische Hilfe, suchen Unterkünfte für sie und begleiten sie auch weiter, zum Beispiel bei der Suche nach Aufenthaltsorten, in denen sich spezialisierte Klinken befinden, die ihre Kinder mit Behinderung behandeln können. Airbnb (.org) schloss mit uns als erste Hilfsorganisation in Deutschland ein Kooperationsabkommen für kostenlose temporäre Unterkünfte ab. Unsere Kerntätigkeit, die Selbsthilfe, wird durch die Peer-Tätigkeit für ukrainische Geflüchtete zusätzlich belastet, erfährt aber auch durch diese Neuankömmlinge neue Impulse. Leider wird die PeerTätigkeit weder durch Krankenkassen (Selbsthilfeförderung gem. §20h SGB V) noch durch den Berliner Senat gefördert. In anderen Regionen versuchen wir derzeit bei den dortigen Kommunen entsprechende Förderprogramme ausfindig zu machen. Für ein Jahr konnten wir nun dieses Dilemma partiell durch ein Aktion-MenschProjekt lösen. Für diesen begrenzten Zeitraum konnten wir einige Teilzeitstellen einrichten, die allerdings den Gesamtbedarf lediglich teilweise abdecken. Was kommt nach Ablauf dieser 12 Monate? Dieser erhöhte Bedarf wird auch in den nächsten Jahren weiterhin bestehen.

Wie schätzen Sie das aktuelle Hilfsangebote für ihre Zielgruppe ein?

Für unsere Zielgruppe gibt es bei etablierten Trägern vielfältige Angebote, allerdings nur wenige muttersprachige, man behilft sich meist mit Sprachmittler_innen. Diese deutschen Träger beklagen sich über den fehlenden Zugang zu dieser Zielgruppe und dementsprechende geringe Inanspruchnahme. Auch herrschte allgemein bereits vor dem 24.02.2022 eine gravierende Unterversorgung an Beratungs- und Begleitmöglichkeiten, die nun verschärft wird. Einige Hilfsangebote wie z. B. Peer-Beratung in Ukrainisch und Russisch, die speziell auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe eingestellt sind, gibt es nur bei uns. Leider ist es uns in den letzten fünf Jahren nicht gelungen, für unsere Organisation institutionelle Förderung zu erhalten. Wir hangeln uns von Förderjahr zu Förderjahr in engem Rahmen. Erschwerend kommt bei einigen staatlichen Zuwendungsgebern, beispielsweise den Krankenkassen, vereinzelt eine latente Russophobie hinzu. Wir würden auch gerne unsere Freizeit- und Bildungsprogramme ausbauen, wenn wir entsprechende Zuwendungen einwerben könnten. Wir sehen solche Programme als notwendig an, da diese Zielgruppe eine psychologische Barriere gegenüber deutschen Anbietern hat.

Wie kann ein schneller Zugang zu unterstützenden Angeboten geschaffen werden?

Damit die Geflüchteten alle oder zumindest die meisten bestehenden Angebote in Anspruch nehmen können, müssen sie sich erst weitgehend assimilieren und in ihrem Gastland installieren. Deshalb versuchen wir, das Konzept von mehreren niedrigschwelligen Anlaufstellen für Geflüchtete aus der Ukraine ins Leben zu rufen und aufzubauen, damit wir dieser Zielgruppe geeignete Orientierungshilfen anbieten können und ihr Ankommen dadurch erleichtern. Was können wir in der Jugendverbandsarbeit leisten, um hier zu unterstützen? Wir suchen Kooperationen, welche es uns als Selbstvertreter von Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung mit Fluchterfahrung ermöglichen, unsere vielfältigen Angebote für diese Zielgruppe auf- und auszubauen.

 

Zum ganzen PFEIL geht es hier.

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