Kinder im Gruppenbild strecken Faust in die Luft.

Zurück

15. Juli 2022
Interview mit Helen Ghebremicael – Wie können wir inklusive Kinder- und Jugendarbeit gestalten?

Für die Juni Ausgabe unserer Verbandszeitschrift der PFEIL mit dem Thema „Inklusion in der Jugend(verbands)arbeit“ haben wir ein Interview mit Helen Ghebremicael geführt. Sie ist Referentin für Kindheit & Jugend bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

Seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes hat die inklusive Gestaltung von Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit Fahrt aufgenommen. Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit als auch Behindertenhilfe machen sich auf den Weg, um inklusive Angebote der Kinder- und Jugendarbeit zu gestalten. Vielerorts finden Vernetzungstreffen zwischen Behindertenhilfeeinrichtungen sowie Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit statt. Gemeinsam werden Konzepte entwickelt, damit Jugendliche mit Behinderung und deren Eltern erreicht werden. Dennoch zeigt sich in der Praxis, dass noch Herausforderungen bestehen, die die Entwicklung inklusiver Angebote erschweren. Hier sind unter anderem die fehlenden finanziellen Ressourcen für die Gestaltung inklusiver Angebote zu nennen. Beispielhaft wird die Qualifizierung von Personal zu behinderungsbedingten Bedarfen und Abbau von Barrieren häufig nicht finanziell unterstützt. Auch die Zuzahlung für die Assistenzkraft des Kindes für den Freizeitbereich sehen Eltern oft als Zugangshürde. Zudem bewegen sich junge Menschen mit und ohne Behinderung oft seit der Geburt in verschiedenen Hilfesystemen. Die Angehörigen der Jugendlichen mit Behinderung organisieren sich beispielsweise in Selbsthilfevereinen der Behindertenhilfe und nehmen die Leistungen der Eingliederungshilfe wie Frühförderung in Anspruch. Dies führt dazu, dass die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit den Angehörigen meist unbekannt sind. Weiterhin gibt es wenig alltägliche Begegnungs- und Berührungspunkte von jungen Menschen mit und ohne Behinderung, da der Besuch von Sondereinrichtungen (beispielsweise der Förderschule oder Therapieeinrichtung) mit längeren Fahrzeiten und einer Einschränkung der Kontakte am Wohnort verbunden sein kann. Daraus ergeben sich weitere, zeitliche und soziale Zugangshindernisse für junge Menschen mit Behinderung. Allerdings sind Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit und der Behindertenhilfe bundesweit engagiert, um über die Herausforderungen zu sprechen und nach Lösungen zu suchen, wie Angebote der Kinder- und Jugendarbeit zukünftig inklusiv weiterentwickelt werden können.

Wie viele Einrichtungen und Träger der Kinder- und Jugendarbeit setzen inklusive Jugendarbeit um?

Konkrete Zahlen zu Einrichtungen und Träger der Kinder- und Jugendarbeit, die inklusive Kinder- und Jugendarbeit anbieten, sind mir nicht bekannt. Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften (Ifas) an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart befragte im Jahr 2015 570 Einrichtungen und Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg, ob Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihre Angebote nutzen. 418 von 570 Befragten, also 73 % gaben an, dass auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihre Angebote nutzen (vgl. Meyer 2016, S. 60). Eine bundesweite Erhebung des Deutschen Instituts für Jugend befragte Jugendzentren, ob auch Jugendliche mit Behinderung an ihren Angeboten teilnehmen. 58 % der befragten Jugendzentren antworteten, dass auch Jugendliche mit Behinderung sie besuchen (Seckinger u. a. 2016a, S. 211).

Wie hoch schätzen Sie die Bereitschaft ein, Jugendarbeit inklusiver zu gestalten?

Die genannten Studien zeigen, dass die Bereitschaft von Einrichtungen und Organisationen hoch ist, auch Jugendliche mit Behinderung für ihre Angebote zu erreichen. Einige vernetzen sich mit der Behindertenhilfe vor Ort, um gemeinsam Ideen für inklusive Angebote zu entwickeln. Andere haben sich mit dem Thema „Inklusion“ beschäftigt, um sich zunächst innerhalb des Teams oder der Einrichtung über das Thema zu informieren sowie weiterzubilden.

Was können Einrichtungen und Träger der Kinder- und Jugendarbeit für eine inklusive Weiterentwicklung ihrer Angebote tun?

Eine inklusive Weiterentwicklung der Angebote bedeutet für mich Organisationsentwicklung. Rahmenbedingungen in der Einrichtung sind zu hinterfragen. Fragen, die sie dabei unterstützen können, sind: Wie inklusiv sind unsere Rahmenbedingungen? Welches Selbstverständnis von Vielfalt, Inklusion und Chancengleichheit liegt unserer alltäglichen Arbeit zugrunde? Welche Netzwerke im Sozialraum gibt es? Sind wir bereits mit Einrichtungen der Behindertenhilfe vernetzt? Die Antworten auf diese Fragen bilden erste Anhaltspunkte, um Veränderungsmaßnahmen abzuleiten, so dass junge Menschen mit Behinderung für die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit erreicht und Angebote inklusiv weiterentwickelt werden. Erfahrungen und Studien belegen, dass Jugendliche mit Behinderung häufig leider nicht von den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit erreicht werden. Gründe hierfür sind der fehlende Peerkontakt zu Jugendlichen ohne Behinderung sowie Berührungsängste und Sorgen seitens der Eltern. Junge Menschen mit Behinderung und Familien benötigen Angebote, die sowohl Schutz als auch Entwicklungsspielräume bieten. Partizipation von Jugendlichen mit Behinderung ist hier wichtig und die Beteiligung der Eltern in der Entwicklung neuer Angebote, auch wenn das für die offene Jugendarbeit untypisch ist. Dazu muss das Angebot an sich umgestaltet werden und die Bedürfnisse aller berücksichtigt bzw. gesichert werden. Dabei kann eine individuelle Assistenz helfen. Auch verbandliche Strukturen sind durch die Mitwirkung von jungen Selbstvertretungsstrukturen in Fachverbänden/Jugendverbänden zu stärken. Für eine inklusive Gestaltung der Angebote ist es wichtig, die Bedürfnisse der jungen Menschen mit Behinderung zu kennen. Deshalb sind sie in der Angebotsgestaltung zu beteiligen. Außerdem ist es für eine inklusive Organisationsentwicklung wichtig, das eigene fachliche Selbstverständnis zu reflektieren. Wie steht die Einrichtung zu Pflege und Betreuung von jungen Menschen mit Behinderung?

Auf welche Unterstützungsstrukturen und Erfahrungen können Jugendverbände zurückgreifen?

Ich denke, es ist wichtig gemeinsam mit der Behindertenhilfe über die Gestaltung inklusiver Angebote in den Austausch zu treten. Sowohl Einrichtungen der Behindertenhilfe als auch der Kinder- und Jugendarbeit müssen über die bestehenden Strukturen in dem jeweils weils anderen System Kenntnisse haben und ihre Netzwerke ausbauen. Es gibt bundesweit gute Beispiele inklusiver Praxis. Sinnvoll ist es, sich in seinem Sozialraum darüber zu informieren, ob es Jugendverbände, Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit oder Behindertenhilfe gibt, die bereits inklusive Angebote der Kinder- und Jugendarbeit anbieten. Es können gemeinsame Lernräume geschaffen werden, in denen sich gemeinsam über Handlungsschritte ausgetauscht wird, wie inklusive Angebote entsprechend der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung entwickelt und umgesetzt werden können.

Wo liegen in der Zusammenarbeit aber vielleicht auch Fallstricke?

Eine Hürde in der Zusammenarbeit können die finanziellen Rahmenbedingungen sein. Eine inklusive Gestaltung der Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit erfordert finanzielle Mittel, um Personal zu schulen, Assistenzen für junge Menschen mit Behinderung zu finanzieren und gemeinsame Ideen zu entwickeln, die auch umgesetzt werden können. Weiterhin ist es wichtig, dass die Entwicklung inklusiver Angebote als gemeinsamer Prozess zwischen den beiden Hilfesystemen gesehen wird. Hierbei ist ein Verständnis für das andere Hilfesystem zu entwickeln, um eine gemeinsame Basis für eine inklusive Organisationsentwicklung ableiten zu können.

Haben Sie ein Best-Practice-Beispiel für ein bedarfsgerechtes inklusives Angebot?

Es gibt viele Best-Practice-Beispiele. Drei Best-Practice-Beispiele möchte ich gerne nennen. Eins ist aus der Behindertenhilfe. Im Projekt FieTe der Lebenshilfe Ostholstein haben Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam ihre Freizeit erlebt. Eine Aktivität im Rahmen des Projektes war der Kartenfächer „Wie inklusiv ist unser Jugendtreff und was müssen wir noch beachten?“ Mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen wurden wichtige Kriterien für die inklusive Arbeit definiert und als praxistaugliches Material umgesetzt. Ein weiteres Beispiel kommt ebenfalls aus der Behindertenhilfe. Die Koordinierungsstelle inklusive Jugendarbeit der Lebenshilfe Hannover veranstaltet beispielsweise inklusive Spieleabende. Außerdem beraten sie als Koordinierungsstelle für inklusive Jugendarbeit andere Institutionen der Kinder- und Jugendarbeit rund um das Thema Abbau von Barrieren und Inklusion. Ein Best-Practice-Beispiel aus der Jugend(verbands)arbeit ist der Kreisjugendring München. Seit 2002 besitzt er eine Fachstelle für Inklusion. Diese fördert den Kontakt zwischen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und bietet Räume, wo sich junge Menschen mit ihren Interessen und Belangen einbringen können.

© Lebenshilfe David Maurer — mit freundlicher Leihgabe

Zurück