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28. Juli 2022
Positionierung: „Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft”

Migration ist ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Das Thema Erinnerung ist für unseren Jugendverband, der in den 1950er Jahren von Vertriebenen für Vertriebene gegründet wurde und dem seit den 2000ern mehrere Migrant_innenjugendselbstorganisationen beigetreten sind, auch heute noch ein essenzielles und nachhaltig relevantes Kernthema. Erinnern spielt in allen Mitgliedsverbänden der djo – Deutsche Jugend in Europa eine große Rolle. Beispiele hierfür sind: Erinnern an Vertreibung, Erinnern an Migrationserfahrung, Erinnern an Völkermorde und Zwangsumsiedlungen, Erinnern an – und damit das Pflegen und Bewahren von – Sprachen und Kultur.

Erinnern findet auf unterschiedlichen Ebenen statt – von der sehr individuellen und persönlichen bis hin zur kollektiven und transnationalen Ebene. Die djo – Deutsche Jugend in Europa setzt sich für eine inklusive, multiperspektivische Erinnerungskultur in Deutschland ein, die dynamisch und offen für Wandel und neue Perspektiven bleibt und die Vielfalt von allen in Deutschland lebenden Menschen abbildet.

Wir stellen fest, dass vielen Erinnerungsnarrativen in unserer Gesellschaft kein oder ungenügend Raum geboten und Gehör geschenkt wird. Wir fordern deswegen von Politik und Gesellschaft:

  • Dass Migrant_innen und ihre Nachkommen auch in Hinblick auf Erinnerungskultur nicht als homogene oder separate Gruppen betrachtet werden, sondern in ihrer Vielfalt anerkannt werden und ihre Erinnerungen und Erfahrungen ganz natürlich Teil der Erinnerungskultur der deutschen Migrationsgesellschaft werden.
  • Dass die oftmals produzierte künstliche Trennung zwischen Migrationserfahrungen von (deutschen) Aussiedler_innen und (nicht-deutschen) Migrant_innen, von Geflüchteten und Vertrags- bzw. Gastarbeiter_innen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Land verlassen haben oder mussten, aufgehoben wird.
  • Dass eine Vielfalt von Stimmen zum Thema Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft Raum bekommt und gehört wird.
  • Dass Geschichtserzählung intersektional gedacht und fehlende Perspektiven thematisiert werden. Dazu gehört u.a.,
    • dass unsere Geschichte als Geschichte ständiger Zu- und Abwanderung anerkannt, begriffen und vermittelt wird.
    • dass der Schulunterricht auf Themen, die für Migrant_innen und ihre Nachkommen eine wichtige Rolle spielen, ausgeweitet werden muss. Dazu zählen insbesondere die Völkermorde an den Armenier_innen (Aghet), Assyrer_innen (Sayfo), (Pontos)Griech_innen (Genoktonia), Yezid_innen (Farmān /Fermān), Rom_nja und Sinti_zze (Porajmos / Samudaripen)[i].
    • dass Perspektiven von Migrant_innen und ihren Nachkommen an Universitäten und in Forschungseinrichtungen ganz selbstverständlich eingebunden werden. Es müssen weiterhin Lehrstühle für diese Perspektiven eingerichtet werden. Stipendien sollen ausdrücklich für Menschen mit diesen Perspektiven auf das Thema Migration bzw. für Arbeiten zu Themen der historischen Migrationsforschung vergeben werden.
    • dass an die deutsche Kolonialgeschichte und deren Auswirkung erinnert und diese aufgearbeitet werden muss. Daraus ergibt sich auch die Verantwortung, Reparationen und Kompensationen zu leisten und koloniale Raubkunst zurückzugeben.
    • dass mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, die Geschichte mittel- und osteuropäischer Staaten mehr in den Fokus genommen, Wissenslücken geschlossen und die mittel- und osteuropäische Erinnerungskultur stärker beachtet wird.
    • dass alle und insbesondere aus dem Fokus geratene Kriege und Konflikte die ihnen zustehende Aufmerksamkeit erhalten und die Stimmen der Betroffenen gehört und ernstgenommen werden.
  • Dass Maßnahmen gefördert werden, die Bewusstsein schaffen, dass uns die Verbrechen der NS-Zeit (insbesondere Holocaust / Schoa[ii] und Porajmos / Samudaripen) trotz unserer vielfältigen Herkunftsgeschichte, alle betrifft.
  • Dass Gedenktage und -orte von Migrant_innen und ihren Nachkommen mehr Sichtbarkeit bekommen, um die Diversität der Gesellschaft stärker abzubilden. Darüber hinaus müssen bestehende Benennungen von Straßen und Plätzen kritisch hinterfragt werden.
  • Dass internationale Jugendbegegnungen, die eine Auseinandersetzung mit historischen Themen und dabei wichtige inter- und transnationale Perspektiven anbieten, ausreichend unterstützt und gefördert werden.

[i] Bei den eingeklammerten Begriffen handelt es sich jeweils um die Eigenbezeichnungen der betroffenen Menschen für die an ihnen verübten Verbrechen. Die folgenden Definitionen sind in Absprache mit den betroffenen djo-Mitgliedsorganisationen und ProjektTEAMS des Projekts „JEM – Jugendliches Engagement in Migrant_innenorganisationen“ verfasst worden.

Porajmos und Samudaripen sind aus dem Romanes hergeleitete Begriffe für die systematische Ermordung von Rom_nja und Sinti_zze durch die Nationalsozialisten. Porajmos heißt so viel wie „Verschlingen“ oder „Zerstörung“, während Samudaripen so viel wie „vollständiger Mord“ oder „Massenmord“ bedeutet.

Aghet ist Armenisch für „Katastrophe“ bzw. für „die Tat, die ins Innere dringt und zerstört“ und beschreibt den Völkermord an den Armenier_innen im Osmanischen Reich. Auch verwendet wird der Begriff „Mets Jerern“, was auf Armenisch so viel wie „großer Frevel/großes Verbrechen“ bedeutet.

Sayfo heißt „Schwert“ und bezeichnet in der aramäischen Muttersprache des assyrischen Volkes den Genozid an den christlichen Minderheiten der Assyrer_innen, Armenier_innen und Pontosgriech_innen im Osmanischen Reich.

Heute bezeichnet man im Griechischen die Verbrechen als Genoktonia. Der Genozid an den Griech_innen wird im Griechischen als „Genoktonia Ton Ellinon“ bezeichnet. Eigenbezeichnungen aus der Zeit des Genozids sind Sphages / Sphagi („Massaker) und Xerisomos („Entwurzelung). Im Deutschen lautet die angemessene Bezeichnung „Genozid an den Griech_innen im Osmanischen Reich“. Damit wird betont, dass nicht nur die Griech_innen in der Pontosregion Opfer waren, sondern auch die Griech_innen im historischen Ostthrakien und Kleinasien (Ionien, Bithynien, Kappadokien).

Mit Farmān / Fermān bezeichnen die Yezid_innen die Verfolgungen, die sie ab der Zeit des Osmanischen Reiches erlitten haben. Das Wort stand im osmanischen Sprachgebrauch ursprünglich für ein Dekret des Sultans, meint jetzt aber die vielen Verfolgungswellen von der Vergangenheit bis heute. Es gibt keine einheitliche Zählweise, insgesamt zählen die Yezid_innen aber mindestens 72 Farmān / Fermān. Farmān / Fermān wird dabei oft mit dem Begriff des Genozids gleichgesetzt.

[ii] Holocaust / Schoa bezeichnen die systematische Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Juden und Jüdinnen, während des Nationalsozialismus. Das Wort „Holocaust“ ist aus dem Griechischen entlehnt und bedeutet so viel wie „völlig verbrannt“. Im Hebräischen spricht man von „Schoah“ (in etwa „große Katastrophe“).

 

Einstimmig verabschiedet auf dem 66. Bundesjugendtag 2022, der vom 17.-19.06.2022 in Heidelberg stattfand.

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