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08. April 2019
Antiziganismus ernst nehmen! Perspektiven für Rom_nja und Sinti_zze schaffen!
Geflüchtete aus den Westbalkanstaaten erleben seit Jahren eine zunehmend restriktive Umsetzung des Asylrechts und sehen sich sowohl in den Herkunfts- als auch in den Aufnahmeländern mit strukturellem Antiziganismus konfrontiert. Durch die Definition von Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Kosovo, Albanien und Mazedonien als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ wird ihnen die Schutzbedürftigkeit grundsätzlich abgesprochen; ihre Asylanträge können somit im Schnellverfahren abgelehnt werden. Damit gehen auch weitere entmündigende Maßnahmen, beispielsweise die sechsmonatige gesonderte Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie die Praxis, Sachleistungen statt Geld an die Geflüchteten zu vergeben, einher.

Reale Fluchtgründe wie rassistische Verfolgung und strukturelle Benachteiligung, die gerade Rom_nja und Sinti_zze dazu bewegen, Länder wie Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Kosovo, Albanien und Mazedonien zu verlassen, werden bestritten oder ignoriert. Ein vielfach antiziganistische Stereotype bedienender politischer Diskurs und eine ebenso diskriminierungsreiche Medienberichterstattung, flankiert von restriktiven gesetzlichen Maßnahmen und ausgrenzenden institutionellen Praktiken tragen ihrerseits dazu bei, ihre Asylansprüche zu delegitimieren.

Antiziganistische Zuschreibungen betreffen in Deutschland auch zugewanderte Mitbürger_innen einzelner EU-Mitgliedsstaaten, namentlich Bulgarien und Rumänien. Nicht selten erleben sie, dass ihnen der Zugang zu Sozialleistungen und Kindergeld entgegen geltender gesetzlicher Grundlagen erheblich erschwert oder gar verweigert wird.[1]

Die aktuelle bundesdeutsche Rechtslage und gängige Praxis von Ämtern und Behörden, schreibt die Diskriminierung, die Ursache für ihre Flucht war, letztlich mit anderen Mitteln fort.

 

  • Wir fordern deshalb, den strukturellen Antiziganismus in den Herkunftsländern als Asylgrund anzuerkennen und faire, diskriminierungsfreie Verfahren in Deutschland zu gewährleisten. Dazu gehört insbesondere die sorgfältige Einzelfallprüfung.
  • Damit einhergehend fordern wir zu Antiziganismus geschultes und sensibilisiertes Personal in öffentlichen Einrichtungen wie Ämtern, Behörden, Schulen, Krankenhäusern und der Polizei.
  • Wir fordern weiterhin die finanzielle und strukturelle Unterstützung von Selbstorganisationen der Rom_nja und Sinti_zze sowie die Förderung von Initiativen zu Empowerment und Teilhabe.
  • Wir fordern ein Bleiberecht für junge Menschen und ihre Familien, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.

Die djo – Deutsche Jugend in Europa wurde 1951 als Deutsche Jugend des Ostens gegründet. Der Verband half Kindern und Jugendlichen, die als Folge des Zweiten Weltkriegs als Vertriebene und Geflüchtete ihre Heimat verloren hatten, sich in die westdeutsche Gesellschaft einzuleben, ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten, ihre kulturelle Identität zu bewahren und ihre jugendpolitischen Ziele durchzusetzen. Auch heute setzen wir uns für die sozialen, politischen und kulturellen Rechte aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen ein, unabhängig von ihrer Herkunft.

Vor diesem Hintergrund haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche innerhalb der djo – Deutsche Jugend in Europa organisierte Landesverbände, Bundesgruppen und Migrant_innenjugendselbstorganisationen intensiv für junge Geflüchtete stark gemacht und sie und ihre Anliegen in ihre Jugendarbeit eingebunden. Die im Rahmen des 63. Bundesjugendtags 2018 verabschiedete Position „Junge Geflüchtete in Deutschland: Ankommen, Perspektiven aufbauen und Teilhabe gestalten“ fasste die diesbezüglichen Erfahrungen unseres Verbands zusammen und formulierte daraus konkrete Forderungen.

Bei unserem Engagement für Migrant_innen und junge Geflüchtete stellen wir jedoch immer wieder fest, dass junge Menschen, deren Familien aus den Westbalkanstaaten oder aus EU-Ländern wie Rumänien und Bulgarien stammen, in Deutschland neue Diskriminierungserfahrungen machen.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass viele in Deutschland wohnhafte Jugendliche sich nicht trauen, offen als Sinti_zze und Rom_nja aufzutreten. Immer wieder wird ihnen die Frage nach ihrer Zugehörigkeit durch rassistische Stereotype und Gesetze aufgezwungen. Obwohl zahlreiche dieser Jugendlichen in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, leben viele von ihnen nach wie vor mit Duldungsstatus – hierbei handelt es sich nicht um einen Aufenthaltstitel, sondern um eine ausgesetzte Abschiebung – und sind gerade in den letzten Jahren zunehmend von Abschiebungen betroffen. Unter diesen Umständen sind ihnen die Entfaltung der eigenen Potenziale und die Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeit erschwert. Diese Jugendlichen aber sind Teil dieser Gesellschaft, ihr Zuhause ist hier in Deutschland.

Kinder und Jugendliche haben laut UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ein Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht (Art. 2 UN-KRK)das durch die oben genannten Praktiken untergraben wird.

Die Duldungspraxis und die damit einhergehenden Konsequenzen für Kinder und Jugendliche aus den Balkanstaaten widersprechen darüber hinaus dem SGB VIII, das festlegt, dass jedes Kind „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ hat.

Als Jugendverband halten wir diesen Zustand für untragbar. Es ist unverantwortlich, dass in Deutschland lebende Jugendliche und ihre Familien täglich damit rechnen müssen, aus ihrem Leben herausgerissen oder voneinander getrennt zu werden. Das Empowerment junger in Deutschland lebender Rom_nja und Sinti_zze, das Jugendverbände wie die djo-Deutsche Jugend in Europa und ihre Mitgliedsverbände mit ihrer Jugendverbandsarbeit fördern, wird durch diese Unsicherheiten und fortwährenden strukturellen Diskriminierungen behindert und im schlimmsten Fall durch Abschiebungen beendet.

Das Kindeswohl gemäß Art. 3 UN-KRK sollte bei allen Erwägungen in diesem Zusammenhang Vorrang haben und Jugendliche nicht in die Ungewissheit abgeschoben werden. In diesem Zusammenhang spielen das Recht auf Bildung und Ausbildung (Art. 28 UN-KRK), das Recht auf Erholung (Art. 31 UN-KRK) und nicht zuletzt das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause eine fundamentale Rolle.

Für Fragen und weitere Auskünfte:
Robert Werner
Bundesgeschäftsführer
djo – Deutsche Jugend in Europa,
Bundesverband e.V.
Tel: 030/446 778-10

[1] Unsere Mitgliedsorganisation Amaro Foro dokumentiert solcherlei Vorfälle exemplarisch für Berlin unter http://amaroforo.de/antidiskriminierungsarbeit.

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